Sueddeutsche Zeitung, 15.02.07

 

Rampensau und Elektroklavier
Das Berliner Radialsystem zeigt Monteverdis „Orfeo"

 

Der Held steckt schwer in der Krise. Verbissen versucht dieser Orfeo, einen neuen Song zu improvisieren, doch immer wieder bleibt er an der selben Stelle stecken. Nichts scheint mehr übrig von der lockeren Unbekümmertheit, mit derer vor kurzem noch die vielen Strophen der „Possentespirto"-Arie aus dem Ärmel geschüttelt hatte. Das Transformieren persönlicher Frustrationen in Musik klappt eben doch nicht so einfach, und schon vor 400 Jahren lautete die Moral, dieder selbst hinreichend leidgeprüfte Claudio Monteverdi aus der Geschichte zog, dass die Kunst am besten Gleichmaß und ruhig Blut bewahren möge. Ein Rat, der nach Ansicht von Andreas Bode und Titus Engel auch heute noch für exzessgefährdete Rockmusiker taugt. Ihr Orfeo könnte im schwarzen Sixties-Anzug mit schmaler Krawatte auch der exzentrische Frontman einer Britpop-Combo sein - in seinem Wutanfall zerdeppert er schon mal eine Geige, und seine Koloraturen singt er mit so aufgeheiztem Furor, als habe er hinter der Bühne gerade eine Nase Koks genommen.
Das Berliner Radialsystem hat die Produktion, die im Dezember in der Hamburger Kampnagel-Fabrik Premiere hatte, nun für ein Gastspiel in die Hauptstadt geholt. Und tatsächlich passt dieser „Orfeo" wie maßgeschneidert in das alte Industriegebäude am Ostbahnhof, das sich schon wenige Monate nach Eröffnung als Experimentierlabor für unkonventionelles Musiktheater etabliert hat.
Zudem gehören Bode und Engel zu den wenigen Hoffnungsträgern, die dem tendenziell festgefahrenen Opernbetrieb durch ihren unverkrampften Zugriff eine neue Richtung geben könnten. Zuvor hatten sich die beiden Hamburger Off-Opernmacher, unterstützt vom Arrangeur Tobias Schwencke, bereits Webers „Freischütz" und Mozarts „DonGiovanni" vorgeknöpft, Instrumentierungen, Dialoge, und all das, was an diesen Opern nicht niet-und nagelfest ist, auf den Prüfstand gestellt. Monteverdis „Orfeo" eignet sich für solche Bearbeitungen freilich noch ungleich besser, allein, weil sich die Alte-Musik-Experten über die gültige Werkgestalt der ersten echten Oper der Musikgeschichte zanken.
Auf eine erstaunlich farbige Minibesetzung von elektrischem Rhodes-Piano, Hackbrett, E-Gitarre, Westerngitarre und Streichsextett ist dieser „Orfeo" reduziert - alles Folgeprodukte der Lyra, mit der der mythische Sänger einst die Herzen der thrakischen Hirten rührte.Die vielen Rollen dieser „Favola in Musica" sind auf nur fünf Spieler verteilt, dazu stakst eine schnoddrige Sprecherin durch die Sandhaufen auf der Bühne und wirft hin und wieder Gedankenfetzen ins Publikum. Die Musiker sitzen in der Regel mittenmang, tanzen aber auch schon mal auf ihren Stühlen, wenn bei den Schäfern Partytime angesagt ist.
Trotz all solcher Freiheiten bleibt dieser „Orfeo" jedoch erstaunlich dicht bei Monteverdi: Indem Bode (Regie) und Engel (musikalische Leitung) den Ballast der Operntradition mitsamt Chor und Orchestergraben abwerfen, wird das Geschehen wieder zu einem Theater mit Musik, verschmelzen Spiel und Gesang so, wie es vermutlich einst Monteverdi bei diesem Wiederbelebungsversuch des antiken Theaters vorschwebte. Das liegt allerdings auch daran, dass im Radialsystem - im Gegensatz zu vielen Off-Unternehmungen - tatsächlich erstklassige Musiker am Start sind. Geiger, die ihre Noten noch im Liegen stilsicher spielen können, und Sänger, die bruchlos aus den madrigalesken Ensemblekonstruktionen des Hirtenvolks in die frühbarocke Theatralik der antiken Götterwelt hinüberwechseln können.
Den Orfeo gibt Catrin Kirchner, die ihrem schlanken Mezzosopran vokale Exzesse abzwingt, die tatsächlich den Bogen von Monteverdis extrovertiertem Deklamationsstil zum exaltierten Rampensaugehabe eines Mick Jagger schlägt. Und der hat inzwischen ja auch das Maß halten gelernt.

Jörg Königsdorf