29.07.2013 Stuttgarter Zeitung

Und am Schluss sind alle tot

Premiere: Das Musical "Shockheaded Peter" im Globe Theater Schwäbisch Hall

ist absurd-schräg und großartig!

Eigentlich ist es bedenklich. Sehr bedenklich.Wie kann man nur beschwingt und gut gelaunt das Theater verlassen, obwohl im Stück gerade zwei Handvoll Kinder ihr Leben lassen mussten? Und genau dieses „Wie kann man nur“ ist das zentrale Thema des Kult Grusicals „Shockheaded Peter“, das jetzt im Schwäbisch Haller GlobeTheater Premiere hatte. Schon das Original ist brillant: Die Britten Phelim McDermot und Julian Crouch haben die bitterbösen Geschichten des Struwwelpeter noch weiter überhöht und Martyn Jaques von der Band „TigerLillies“, schrieb eine schräge Musik dazu, die an das Cabaret der dreißiger Jahre erinnert– so entstand eine Junk Opera, die schwarzhumoriger nicht sein könnte. Also wurde in Schwäbisch Hall einfach nur die hervorragende Vorlage umgesetzt? Mit nichten. Zu den beiden KomponentenText und Musik kommt hier noch eine dritte hinzu: moderner Tanz mit einer an Artistik grenzenden Körperlichkeit – denn die in Kalifornien geborene Sommer Ulrickson ist nicht nur Regisseurin, sondern auch Choreografin. Und im Ensemble sind mit Dan Pelleg und Marko E. Weigert zwei ausgebildeteTänzer vertreten, die auf der Bühne vertikal und horizontal herumtoben wie ausgelassene Kinder, voller Energie und scheinbar ohne physische Grenzen. Dass Dominique Aref seit ihrer Jugend auf Musicalbühnen zu Hause ist, wird spätestens bei ihrer wunderbaren Zappel Philipp Performance deutlich, bei der sie gegen ihre zuckenden Körperteile kämpft, als gehörten die nicht zu ihr. Doch auch Nils Buchholz steht der energetischen Ausstrahlung seinerKollegen in nichts nach, er performt die Geschichten des Wüterichs Friederich und den Daumen lutschenden Konrad mit wuchtiger Kraft und rauchiger Gesangsstimme und vermittelt so herrlich naiv die Boshaftigkeit, die eben auch in Kindern schlummert. Die Gruppe der schrägen, ins kreatürlich abdriftende Charaktere wird vervollständigt von Catrin Kirchner, die mittels ihrer ausgebildeten Opernstimme sowohl den wilden, anarchistischen als auch den domestiziertenTeil ihrer Figur brillant auf die Bühne bringt. Sie schafft es, während eines einzelnenTons zwischen „Gut“ und „Böse“ zu wechseln – zwischen den Kategorien, die das Theaterstück in Frage stellt. Es bleibt offen, ob diese fünf Kreaturen in zerschlissener Häftlingskleidung, die mit Wunden übersät sind und vor einer Wand von Waschmaschinenfronten agieren, (Bühne & Kostüm: Nicola Minssen) Insassen einer Psychiatrie, eines Heims oder eines Gefängnisses sind. Klar ist, sie kämpfen gegen ihre negativen Gefühle – und um ihre Emanzipation. Denn sie werden brutal unterdrückt von ihrer Direktorin, die mit Peitsche und Leine versucht, die Gruppe zu kontrollieren und sie zur Aufführung des Stücks im Stück zu bringen. Es ist ein großer Coup dieser Inszenierung die Rolle der sadistischen Dompteurin mit Christine Urspruch zu besetzen. Sie spielt die kühle, überlegene, Kontrollinstanz mit einer Intensität und Präsenz, die Freude und Angst zugleich macht. Nie weiß man, ob sie hart und grausam sein muss, um die ihr unterstellten Geschöpfe vor ihren vielleicht lebensgefährlichen Fehlern zu bewahren oder ob sie es nur zu ihrem eigenen Spaß tut („Manchmal muss man grausam sein. . .nur zu Entspannung.“). „Shockheaded Peter“ handelt vom spannungsgeladenen Aufeinandertreffen von gesellschaftlichen Konventionen und individueller Freiheit – oder einfacher: zwischen dem Müssen und dem Wollen –, das (nicht nur) im Inneren von Kindern zu aufreibenden Kämpfen führt. Aber neben aller Möglichkeit zur Interpretation bietet die Inszenierung vor allem eines: einen großartigen, schwung und kraftvollen, absurd schrägen Musiktheaterabend. (Nicole C. Buck)

 

29.07.2013 Südwest Presse 

Wuselig-gruslige Albträume - Grotestkes Musical im Globe Theater

Schwäbisch Hall

Lustige Geschichten und drollige Bilder für Kinder von 3 bis 6 Jahren", so hieß das Bilderbuch "Der Struwwelpeter", als es vor fast 170 Jahren erstmals erschien. Doch sind die Geschichten vom Suppenkaspa, der verhungert, oder von Paulinchen, das beim Zündeln verbrennt, überhaupt für Kinder geeignet? Diese Frage treibt Menschen schon lange um. Das Musical "Shockheaded Peter" bezieht eindeutig Stellung: Nein! Es macht aus den Bildergeschichten groteske und akrobatische Szenen wirrer und blutiger Albträume. Am Anfang stehen zwei zunächst harmlos wirkende Lieder: ein mehrstimmig gesungenes sanftes Schlaflied und ein Lied von der schönen Weihnachtszeit, dessen Begleitung nach "Heitschi Bumbeitschi" klingt, das aber von Catrin Kirchner mit so vehementem Sopran vorgetragen wird, dass es klanglich eine einzige Drohung ist.Und dann die Theaterdirektorin, dargestellt von Christine Urspruch: "Ich bin die größte Schauspielerin aller Zeiten", ruft sie beifallheischend aus - und man darf sie wirklich zu den ganz großen Schauspielerinnen zählen, das beweist sie auch an diesem Abend. Dass ihre körperliche Größe mit 1,32 Metern ein Extrem in die andere Richtung darstellt, gibt diesem dominanten Auftritt etwas circensisches. Daran schließen akrobatische Kunststückchen der anderen fünf Darsteller an, allen voran Nils Buchholz. Er turnt an Stoffbahnen, schlägt Rad und Flickflack und ist in vielen Szenen versierter Sänger und Hauptdarsteller. "Shockheaded Peter" hat nur sehr ungefähr eine Handlung. Ein Kind wird weniger geboren als aufgefunden, dann fliegt es erstmal in hohem Bogen durch die Luft und landet einen Stock höher im Spind. "Und wo bleibt die liebende Mutter?", wird immer wieder gefragt. Diesem Kind werden die grusligen Geschichten erzählt, die sich ebenfalls nur sehr ungefähr am "Struwwelpeter" orientieren. Sie sind schriller und vor allem noch drastischer als im Original: Sie enden allemit dem Tod. Und der wird jeweils effektvoll besungen.

So lässt Catrin Kirchner ihre sehr gut geführte, Operngeschulte Stimme beim Tod des Suppenkaspers von schriller Höhe höchst dramatisch ins tiefe Nichts gleiten, und beim Zappel-Philipp lässt sie vom ersten Rang aus kunstvolle Koloraturen durchs Globe-Theater tönen. Als Darstellerin des Philipp zappelt sich derweil Dominique Aref unten auf der Bühne ab, bis der Bub - in derber Darstellung gespickt mit Messern und Gabeln - tot auf dem Boden liegt. Dan Pelleg dagegen singt sanft und träumerisch vom fliegenden Robert, der vom Sturm hinweggeweht wird. Auch Dominique Aref und Marko Weigert zeigen sängerische Qualität. Es geht auch um Macht in diesem Musical. Da ist vor allem die herrische Theaterdirektorin, die oft die anderen Beteiligten an elastischen Seilen oder Tuchbändern über die Bühne führt und sie zurück zieht, wenn sie einen Schritt zu weit gehen. Man denkt an Hofhunde, Zirkuspferde oder Marionetten. Raum für Assoziationen ist überhaupt viel: Vieles erinnert an Monty-Python-Filme, und die Theaterdirektorin lässt allerlei Zitate aus der Weltliteratur einfließen, zum Beispiel "Sein oder nicht sein", das zu einem Widderschädel gesprochen wird und damit an zwei Szenen aus "Hamlet" gleichzeitig erinnert, den Monolog und die Friedhofsszene. Diese Zitate sind Reminiszenzen nicht nur, aber vor allem an Shakespeare - und damit wieder an den Ort des Geschehens, das Globe-Theater. Es ist ein temporeicher "Shockheaded Peter", die Schauspieler wechseln zeitweise minütlich die Rollen. Wen sie gerade spielen, zeigen ihre Kopfbedeckungen. Christine Urspruch bleibt zwar bei einer Rolle, aber nicht bei einer Kopfbedeckung. Sie könnte mit ihren Hütchen, die mal mit einem Vogelnest, mal mit einem großen, roten Krebs verziert sind, gut zu einem englischen Pferderennen gehen. Die Kostüme entspringen wie das Bühnenbild aus Waschmaschinen und Spinden dem Ideenreichtum von Nicola Minssen. Massenhaft gute Einfälle hat auch Regisseurin Sommer Ulrickson, die in Hall vor allem als Choreografin bekannt ist. Entsprechend wird viel getanzt in ihrer Inszenierung. Das Ensemble bietet großartige Leistungen in allen Disziplinen - Schauspiel, Gesang und Tanz. Das ist bewundernswert - besonders an einem so heißen Premierentag. Das Publikum applaudiert lange mit begeisterten Pfiffen und Trampeln. (Monika Everling)